Mein Jahr in Büchern, von Florian Valerius @literarischernerd

by Florian Valerius
...

Florian Valerius @ literarischernerd / buecherkaffee.de

Florian Valerius, geboren in Trier, hat seinen eigenen Weg gefunden, Menschen zum Lesen zu bringen. 2016 rief er den Instagram Account @literarischernerd (> Linkins Leben und ist heute mit über 21.000 Followern der erfolgreichste Buchblogger Deutschlands  – er nutzt #bookstagram als modernen und authentischen Weg, um Menschen und Literatur zusammenzubringen. Valerius wurde dafür mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht und sitzt u.a., auf Bitten des Bundeskanzleramts, in der Jury des Deutschen Verlagspreises. Seine Leidenschaft lebt er auch täglich in der analogen Welt aus, denn Florian ist seit 2004 Buchhändler mit Leib und Seele und mittlerweile Filialleiter der Universitätsbuchhandlung Stephanus in Trier.

Florian war so nett, einen ganz persönlichen literarischen Jahresrückblick zu erstellen. Seine eigenen Jahreshighlights mit Herz und Verstand – eine Anregung für alle Leser*innen und diejenigen, die es noch werden wollen: 

Mein Jahr in Büchern

Januar 2020

Es war gerade mal Januar und ich befürchtete, dass ich das beste Buch des Jahres bereits gefunden hatte. Lange schon habe ich kein so poetisches, spannendes, philosophisches und großartiges (Sach-)Buch wie „Das Evangelium der Aale“ von Patrik Svensson, erschienen bei Hanser, übersetzt von Hanna Granz, mehr gelesen. Einerseits eine Kulturgeschichte des wohl faszinierendsten Wesen dieses Planeten: den Aal – und eine wunderschöne, bewegende Vater-Sohn Geschichte. Ich muss gestehen, dass Buch triggerte mich schon deswegen, weil auch ich als Kind – wie der Autor- mit meinem Vater oft zum Angeln fuhr (und auch Aale in unserer Badewanne schwammen) -und auch die Beziehung, die hier geschildert wird, meiner zu meinem Vater sehr, sehr ähnlich ist. Was ich jedoch nicht wusste, war, dass der Aal seit der Antike die Menschheit mit all seinen Mysterien so derart bewegt und beschäftigt. Angefangen mit Aristoteles, über Sigmund Freud, bis hin zu Günter Grass und Rachel Carson. Und viele, viele mehr, die sich mit dem Aal und all seinen Geheimnissen im Laufe der Jahrhunderte beschäftigt haben. (Diese naturwissenschaftlichen Rätsel sind bis heute teilweise ungelöst!) Am Ende ist dieses Buch nichts weniger als eine tiefgründige Meditation über das Leben und den Tod. Das Suchen. Und die Grenzen der Wissenschaft- und den kleinen Spalt zwischen Fakten & Wissen und Mysterium & Fantasie. Ich könnte jetzt noch Stunden über den Aal reden… …und zum Glück gab es 2020 dann doch auch noch weitere literarische Highlights! ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd)

Das Evangelium der Aale / Patrik Svensson

Februar 2020

Die Geschichten von Nicole Flattery sind ein Schlag in die Magengrube. Erst schmunzelt man, oft lacht man – dann aber kommt die Verunsicherung. Ganz langsam. Subtil schleicht sie sich ins Hirn der Leser. Man wundert sich, stolpert über Nebensätze, hinterfragt Gesten – kleine, surreale Momente. Man ist verwirrt, verunsichert – und irgendwann verstört. Zu lachen hat man dann längst nichts mehr – stattdessen: ein großes, unangenehmes, (für mich) nicht benennbares Gefühl im Magen. Ganz tief und ganz unten. „Zeig ihnen, wie man Spaß hat“ – Worum geht es im Debut der Irin? Acht Erzählungen über Mädchen/ Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. (Oder auch nicht?) Acht Geschichten über Frauen in dieser Welt, in dieser Gesellschaft. Frauen, die sehr passiv sind, die oft nicht ins „Schema“ passen, die anders sind. Die anecken. Frauen, denen Leid widerfahren ist. Frauen, die überleben in dieser/einer wahnsinnigen Welt. Flattery schreibt eindringlich, verführerisch – und grausam. Ich liebe ihre Sätze, ihre Metaphern, ihre Vergleiche, ihre Bilder. “Er sah aus wie eine Kleinstadt, in der ich leben und sterben würde.” Ein Satz zum niederknien. Das Buch ist voll von solchen Sätzen. Nicht jede Geschichte kann das Niveau halten, eine ist z.B. viel zu lang – aber der Großteil ist sehr sehr sehr beeindruckend und stark. Eine geniale Entdeckung. Ich bin arg verliebt. „Zeig Ihnen, wie man Spaß hat“, erschienen bei Hanser Berlin, übersetzt von Tanja Handels. Absolute Leseempfehlung.  ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd)

Zeig ihnen, wie man Spaß hat / Nicole Flattery

März 2020

Kennt ihr den „Tschick“-Effekt? Wahrscheinlich nicht – den hab ich nämlich vor Jahren für mich erfunden: Damals war der Hype um den Roman „Tschick“ so groß, dass ich nur dachte: Bleibt mir weg damit – dann wurde ich doch schwach und habe ihn gelesen. Mit der Prämisse, dass ich ihn hassen werde. Nun gut. Ich wurde eines besseres belehrt. Ich hab ihn geliebt. Und dann war da irgendwann “Kurt“. Geschrieben von Sarah Kuttner, die irgendwie immer Teil meines (TV-)Lebens war (und mehr eben aber auch nicht), erschienen im  S.Fischer Verlag. Kurt war plötzlich überall in den sozialen Medien – und alle liebten es und ich wieder so: „Wah – Never.“ Na ja, dann ist das Taschenbuch erschienen – und wieder wurde ich schwach und wollte dieses Buch so sehr dissen. Aber – sorry: ich liebe es ganz arg. Lena liebt den großen Kurt. Der hat einen kleinen Kurt aus einer früheren Beziehung. Lena und Kurt (der große) kaufen ein Haus in Brandenburg. Kurt (der kleine) ist alle 2 Wochen da, die Exen verstehen sich noch sehr gut, die Erziehung wird brav geteilt. Und dann stirbt der kleine Kurt. Und plötzlich ist es, als würden alle Farben verschwinden. Und das Leben ist nicht mehr dasselbe. Der Trauerprozess beginnt. Die Kuttner hat etwas wunderbares geschaffen: Sie hat eine herzerwärmende Geschichte geschrieben, die so ehrlich, so schön und so traurig ist, dass es schmerzt. Und dabei großartig unaufgeregt ist. Ich alter Stein habe geweint beim lesen. Aber auch gelacht, manchmal geschmunzelt, oft genickt. Und das Buch beseelt beendet. Man hat das Gefühl, man kennt all diese Menschen: Als seien es gute Freunde. Man fühlt ihre Unsicherheiten, ihre Probleme, ihre Trauer und ihren Schmerz. Weil dieser Roman zutiefst menschlich ist. Und was kann man Schöneres von einer Geschichte behaupten? Danke, Frau Kuttner! ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Kurt / Sarah Kuttner

April 2020

Ein absolutes Frühjahrs-Highlight war für mich „Die Optimisten“ von Rebecca Makkai. Ein großer amerikanischer Roman (nominiert für den Pulitzer Prize und den National Book Award, der auf rund 600 Seiten eine großartige, bewegende Freundschaftgeschichte erzählt. Eine Geschichte, die 30 Jahre umspannt, die 1985 in Chicago beginnt und 2015 in Paris endet. Ich bin überwältig und hatte am Ende Tränen in den Augen. “Die Optimisten” ist ein Buch, das man zuschlägt, und dann die Figuren vermisst. Aus tiefstem Herzen. Ein Phänomen, das auf viele amerikanische Gesellschaftsromane zutrifft: Es treten viele Charaktere auf und nach und nach, man bemerkt es beim Lesen kaum, wird man immer mehr in das Geschehen hineingezogen. Man schlägt das Buch zu und ist einfach traurig, weil man die Menschen, die man über so einen langen Zeitraum begleitet hat, nicht mehr loslassen will. Es ist ein wichtiges Buch, das Themen wie die Diskriminierung homosexueller Menschen und den gesellschaftlichen Umgang mit HIV thematisiert. Und die Fragilität zwischenmenschlicher Beziehungen. Dass ein Gemälde von Amedeo Modigliani das Cover ziert, kommt auch nicht von ungefähr: Auch die Epoche der „Lost Generation“ spielt eine große Rolle in dieser unwiderstehlichen Geschichte. Absolute Leseempfehlung! Erschienen im Eisele Verlag- übersetzt von Bettina Abarbanell. ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Die Optimisten / Rebecca Makkai

Mai 2020

Eine Lektüre, die Kraft kostet und einiges von seiner Leserschaft abverlangt: “Je tiefer das Wasser“ von Katya Apekina- übersetzt von Brigitte Jakobeit, erschienen im Suhrkamp Verlag. Dieser Debütroman umspannt viele Jahrzehnte und ist angesiedelt in New Orleans und im Künstlermilieu von New York. Die Geschichte erzählt von toxischen Beziehungen und allen Formen von Abhängigkeiten. Marianne versucht sich umzubringen- ihre Töchter Mae und Edie leben danach bei ihrem Vater Dennis Lomack, einem weltberühmten Schriftsteller, zu dem sie vorher nie Kontakt hatten. Dies führt zu Ereignissen, die schrecklicher und verstörender nicht sein könnten. Jedes Detail mehr würde zu viel verraten. Tief, ganz tief lotet Apekina die versehrten Psychen ihrer Protagonisten aus – und erzählt von psychischem und physischem Missbrauch. Und wie dieser Missbrauch ein Menschenleben zerstören kann. Und das schmerzt. Sehr. Kongenial die Erzählweise – zersplittert wie das kranke Familiengefüge: die Geschichte wird hauptsächlich aus Sicht der beiden Schwestern erzählt – jedoch immer wieder unterbrochen von anderen Figuren, Meinungen, Briefen, Notizen und Interviews (und das auf verschiedenen Zeitebenen), um so ein kaleidoskopartiges Gesamtbild der gesamten Vorgänge zu entwerfen. Dies ist nicht neu, aber genial umgesetzt. Eine Geschichte über Kunst, Passion, Begierde, (kaputte) Familienbande, Wahn, die mich in ihren Bann zog – und mir auch so schnell nicht aus dem Kopf gehen wird. An zwei Abenden inhaliert- großartige Literatur. ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Je tiefer das Wasser / Katya Apekina

Juni 2020

„Dennoch wird ihn der Schmerz mit voller Wucht treffen, das ahnt sie, so wie sie ihn kennt. Aber darüber soll er sich heute noch keine Gedanken machen, jeder Kummer kommt früh genug.“ „Wir holen alles nach“ von Martina Borger hat wohl den großartigsten Titel dieser „Frühjahrscoronasaison“. Aber nicht nur der Titel ist toll – das Buch habe an einem Nachmittag in einem Rutsch inhaliert. Unaufgeregt, zart, präzise und leise erzählt es von zwei sehr unterschiedlichen Frauen, die versuchen ihr Leben zu meistern. Verbunden sind die durch Elvis – er ist der Sohn von Sina und gleichzeitig der Nachhilfeschüler von Ellen. Beide hatten/haben es nicht immer leicht im Leben und kämpfen für ihr kleines Stück vom Glück. Als in der Mitte der Geschichte klar wird, dass der kleine Elvis ein dunkles Geheimnis hat, entwickelt sich das Buch zum absoluten Pageturner, den man nicht mehr aus der Hand legen mag (und kann). Borger zeigt uns das wahre Leben, greift Themen wie Patchworkfamilien, Alkoholkolismus, Altersarmut, Einsamkeit und Verantwortung auf und verwebt all dies klug in einem Plot, der den Leser*innen viel über das moderne Alltagsleben und zwischenmenschliche Beziehungen/soziales Miteinander erzählt. Ein sehr, sehr feines Buch. Und für alle Hundefreunde: Sehr viel #dogcontent 🐶. Absolute Empfehlung, erschienen im Diogenes Verlag. ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Wir holen alles nach / Martina Borger

Juli 2020

Müsste ich diesen Roman in einem Satz beschreiben, würde ich wohl sagen: „Der beste Roman über das Scheitern einer Ehe seit Anna Karenina!“ „Der Anhalter“ von Gerwin van der Werf, übersetzt aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas, erschienen bei S. Fischer.  Tiddo fährt zusammen mit seiner Frau Isa und Sohn Jonathan nach Island. Sie haben sich ein Wohnmobil gemietet und wollen einen Roadtrip machen – für die beiden Erwachsenen ist es der letzte Versuch die Ehe zu retten, die seit längerem im Argen liegt. Unterwegs nehmen sie einen Anhalter mit – ein junger Kerl, tätowiert, ein wenig mysteriös und ziemlich sexy, der sich so nach und nach in das Leben der Familie hineinschleicht und irgendwann mich mehr gehen will. Was dann alles passiert, entwickelt sich zum coolsten Psychothriller des Sommers – ich wollte einfach nur wissen: Was ist in dieser Familie vorgefallen? Warum sind die alle so? Was führt der Anhalter im Schilde? Und wohin führt diese absolut bitterböse und unangenehme Geschichte voller Antihelden? Ich habe das Buch an zwei Abenden aufgefressen, konnte es nicht aus der Hand legen und konnte nebenbei in Gedanken durch Island gereist. Absolute Leseempfehlung!  ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Der Anhalter / Gerwin van der Werf

August 2020

Ich mag ja eigentlich keine „lustigen“ Bücher – fragen Kunden nach so etwas, graust es mir. …und dann kommt da plötzlich Ilona Hartmann und bereitet mir die drei schönsten, witzigsten, leichtfüßigsten und bewegendsten Lesestunden dieses tristen Sommers. Jana bucht eine Kreuzfahrt von Passau nach Wien. Das Schiff ist wenig glamourös, die Donau nicht wirklich blau, die restlichen Passagiere (gefühlt) 5 mal so alt. Der Grund für diese Schifffahrt ist ein besonderer: der Kapitän ist Janas leiblicher Vater (den sie nie kennenlernen durfte). Was nun folgt, sind viele wahnwitzige, urkomische Szenen an Bord: Jana trifft auf skurrile Rentnerehepaare, trinkfeste Bordbesatzung (Bob! Paillettenjacke! Melodica!) mit absurden Biografien -und offenbart sich letztendlich ihrem Vater (der sie wohl eigentlich gerne abschleppen würde ). Und eben jene sensible, berührende Annäherung hebt das Buch auf eine ganz besondere Ebene. Authentisch, nachvollziehbar und sehr sehr ehrlich ist Janas Lebensgeschichte, die immer wieder eingestreut wird – und auch die große Angst vor diesem Mann, der nie für sie da war. Der ihr Leben dadurch beeinflusst hat. Jana gewinnt am Ende ihrer Reise einige Erkenntnisse – der Leser/die Leserin hat währenddessen viel geschmunzelt, herzhaft gelacht (was ich sehr wertschätze: NIE über die Figuren!), mitgefiebert – und sicherlich auch das ein oder andere Tränchen verdrückt. (Ich zumindest – True Story) Also Leute, wenn ihr für ein paar Stunden den Alltag vergessen wollt (und Sätze zum niederknien entdecken wollt): Lest dieses Buch. Sofort. Danach fühlt ihr Euch besser, leichter. Ja, beglückt. Versprochen. Ich weiß jetzt jedenfalls, was ich meinen Kunden empfehle, wenn sie etwas lustiges suchen!  Land in Sicht“, erschienen bei Blumenbar. ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Land in Sicht / Ilona Hartmann

September 2020

Wer in Zeiten wie diesen ein wenig Eskapismus gebrauchen kann, dem empfehle ich hiermit von Herzen: „Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens“ von Tom Barbash- übersetzt von Michael Schickenberg, erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Ich habe das Buch in zwei Tagen aufgefressen, bin tief hineingetaucht, in das pulsierende New York City des Jahres 1979. Der berühmte Late-Night-Show Moderator Buddy Winter erlitt einst vor der Kamera einen Nervenzusammenbruch. Nun arbeiten alle daran, insbesondere sein Sohn Anton, ihm zu einem Comeback zu verhelfen. Es wird ein aufregendes, verrücktes Jahr für die chaotische, liebenswerte Familie Winter, die im berühmt-berüchtigten Dakota Building lebt. Einer ihrer Nachbarn: John Lennon -welcher eine nicht unbedeutende Rolle beim Comeback Buddys spielen soll. Leute! Was für ein Buch. Ich habe mir gewünscht, es würde nie enden. Ich habe mir gewünscht, ein Teil dieser Familie sein zu dürfen. Der Geist von John Irving liegt über diesem Roman – skurril ist er, unglaublich witzig, charmant und: voller Herz. Durchzogen aber auch von Melancholie und dem Wissen, dass die Dinge sich ändern werden & eine neue Zeit anbrechen wird. Barbash lässt ein buntes, lebendiges Panoptikum vor den Augen seiner Leser*innen auferstehen – angefüllt mit Zeitgeschichte, Popkultur und Politik. Er verwischt die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, lässt Familie Winter auf reale Persönlichkeiten -Schauspieler, Politiker, Sportler- treffen. Im Kern aber ist es die schönste Vater-Sohn Geschichte, die ich seit Langem gelesen habe. Eine Geschichte über Abnabelung, Vorbilder, Selbstbestimmung und „seinen eigenen Weg finden“. Eine Geschichte über Anfänge, Neuanfänge, Abschiede. Und über das, was Familienbande bedeuten. Ein Roman, dem ich massenhaft Leser*innen wünsche. Ein Roman, dessen Protagonisten ich vermisse, weil ich sie alle so dermaßen ins Herz geschlossen habe. …und was kann man bitte schöneres über eine Lektüre sagen?  ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens / Tom Barbash

Oktober 2020

Was für ein Schatz! „Manchmal hilft nichts anderes, als das gesamte Leben in eine mit Blaubeeren gefüllte Badewanne hineinzuweinen.“  Herr Rudi“ ist Gerichtsvollzieher -zwei Tage vor der Pensionierung, als er erfährt, dass er Krebs hat. Schlamassel. Als wir ihn kennenlernen, sitzt er in einem Hotelzimmer, hat einen Hexenschuss und eine Badewanne voller Blaubeeren – und eine Pistole auf dem Nachtschrank. Auf den ersten Seiten dachte ich noch: Ja eh, nette Geschichte. Und dann, plötzlich, sprang der Funke über: Nun bin ich restlos verliebt in Herr Rudi, dieses knurrige Menschenwesen. Aber auch in die Livi, seine viel zu früh verstorbene große Liebe und in den Fritz, seinen besten Freund. (Die Kennenlerngeschichte!!! Ihre Gespräche!) Mittlerweile glaube ich, die Österreicher sind definitiv die besseren Menschen.  Anna Herzig hat hier eine Geschichte vorgelegt, die unaufgeregt und leicht daherkommt, aber umso krasser tief ins Herz der Leser*innen trifft. Ich glaube, die Deutschen können das irgendwie nicht SO – hier wird Schmäh gesäht, es wird gegrummelt – aber doch menschelt es zutiefst, steckt in jeder Tat, in jeder Bewegung und Geste Liebe. Und das vollkommen kitschbefreit. Vergesst den kleinen Prinzen, lest Anna Herzig! Sofort! Erschienen bei Voland & Quist. ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Herr Rudi / Anna Herzig

November 2020

Florian Valerius @ literarischernerd / buecherkaffee.de

Die unmittelbare Zukunft: Nahezu alle Tiere sind ausgestorben. Schuld ist der Mensch. Die Ornithologin Franny schließt sich der Crew eines Fischerbootes an, um den letzten Küstenseeschwalben zu folgen. Am Ende des Buches werden alle Leser*innen die eigenwillige, wütende, ungestüme Frau tief in ihr Herz geschlossen haben. Sie werden mitleiden, wenn sich nach und nach und Schicht für Schicht ihre Lebensgeschichte offenbart. Und ihr Herz wird brechen, wenn die getriebene Franny das Ziel ihrer Reise erreicht. „Zugvögel“ von Charlotte McConahy (übersetzt von Tanja Handels), erschienen bei S.Fischer, ist ein absoluter Pageturner – clever erzählt ist er, mitreißend! …und voll von Charakteren, die man sofort liebt. Die Naturbeschreibungen sind atemberaubend- die wilde, tosende See ist für mich die heimliche Hauptfigur dieses wunderbaren Abenteuerromans.  ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Zugvögel / Charlotte McConahy

Dezember 2020 – Zeit für meine drei ultimativen Jahreshighlights!

Florian Valerius @ literarischernerd / buecherkaffee.de

Vollkommen beseelt habe ich „Bären füttern verboten“ von Rachel Elliott beendet. Das Buch ist im Mare Verlag erschienen und wurde übersetzt von Claudia Feldmann. Sidney ist Freerunnerin und an ihrem 47. Geburtstag reist sie nach St.Ives. Einen Ort, den sie seit über 30 Jahren meidet, weil sich dort ihr Leben für immer verändert hat. Etwas schreckliches ist dort passiert, das Sydney bis heute verfolgt. Dies klingt jetzt schrecklich bedrückend – und ja, es ist ein Buch über Trauer, Traumata, Trennung und Verlust. Aber: Es ist auch das charmanteste, liebenswerteste, witzigste und tröstlichste Buch, das ich bisher zu diesem Thema gelesen habe. Warm ist es. Und zutiefst menschlich. Elliott lässt ein Feuerwerk an skurrilen Charakteren auf ihre Leser*innen los – Hipster Buchhändler Dexter, der auch mal gerne Frauenkleider trägt, seine Kollegin Belle, die nur I🖤Otter-Shirts trägt, Maria, Zahntechnikerin, die heilende Muffins zubereiten kann, Jason, der Olivia Newton-John liebt, Howard – Howard!!!!, Sidneys Vater, der … ach, entdeckt das doch bitte alles selbst! Mit den Kapitelüberschriften angefangen, über die Szenen, die aus Sicht eines Hundes geschrieben sind, bis hin zum Toten in der Bettenabteilung eines Kaufhauses (Sydneys erste Begegnung mit dem Tod) – alles ist perfekt komponiert in diesem Traum von einem Roman. Erinnerungen an Mariana Leky und „Die fabelhafte Welt der Amélie“ wurden wach, als ich diese Geschichte über Heilung und Neuänfange inhalierte. Elliott kennt die Menschen ganz genau- das Buch steckt voll von klugen Beobachtungen des Alltags und liefert Lebensweisheiten in jedem Kapitel. Lebensweisheiten, die poetisch sind – und wahr. Am liebsten hätte ich mir alles daraus notiert. Ein geniales Buch. Lest es, liebt es, verschenkt es – es wird Euch alle glücklich machen. Und beweist: Es ist nie zu spät, sein Leben auf die Reihe zu kriegen und es SO zu leben, wie man möchte.  ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Bären füttern verboten / Rachel Elliott

Florian Valerius @ literarischernerd / buecherkaffee.de

Alte Sorten“ von Ewald Arenz ist für mich ein absolutes Jahreshighlight! Was für ein großartiges Buch, was für eine wunderschöne Geschichte! Im Weinberg trifft die Bäuerin Liss auf die 17 jährige Sally. Sie nimmt die Ausreißerin mit und gewährt ihr einen Unterschlupf auf ihrem Hof. Beide Frauen sind voller Zorn – und nach und nach erschließt sich uns Lesern, was den beiden Frauen in ihrem Leben widerfahren ist. Alles an diesem Buch ist eine Wucht. Eine Wucht voller Schönheit, Poesie und Empathie. Mitzuerleben, wie diese beiden Frauen sich zaghaft annähern, geht komplett unter die Haut. Mitzuerleben, wie ein Miteinander entsteht, ein Miteinander zwischen zwei Menschen, die daran gewöhnt sind, alleine für sich zu kämpfen (und zu überleben), geht komplett unter die Haut. Die Rückschläge, die Verletzungen- all das können wir unfassbar gut nachvollziehen, nachspüren. Dazu all die Naturbeschreibungen! Der Hof, die Kartoffelernte, das Imkern, frischgebackenes Brot, Salz – und natürlich: der Geschmack von Birnen. Das Gefühl, wenn der Körper den ganzen Tag gearbeitet hat, wenn dir die Septembersonne warm ins Gesicht scheint und morgens der Nebel über den Feldern liegt. Das mag nun kitschig klingen – ist es aber nicht. Überhaupt nicht. Dafür ist das Buch zu realistisch (und scheut sich auch nicht, davon zu erzählen!). Ich kann schwer in Worte fassen, was das Buch mit mir angestellt hat – aber „Balsam für die Seele“ kommt dem schon sehr, sehr nahe. Ein kluges, warmes, ehrliches, berührendes Buch, irgendwo zwischen Robert Seethaler, Benjamin Myers und Mariana Leky anzusiedeln. Nahezu genial, wie Ewald Arenz sich in seine beiden Heldinnen hineindenken und -fühlen kann. Ich bin schwer beeindruckt und ziehe meinen Hut. Ich bin verliebt in Liss und Sally – und plädiere für eine Fortsetzung! Lieber Dumont Verlag, wie machst du das immer nur, solche Schätze zu finden? Bücher, die seinen Leser*innen einfach nur gut tun&glücklich machen. Danke von Herzen dafür.  ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Alte Sorten / Ewald Arenz

Florian Valerius @ literarischernerd / buecherkaffee.de

„Es gab Sehnsucht nach etwas, das verloren war, Sehnsucht nach etwas, das sich nicht erfüllt hatte, Sehnsucht danach, etwas zu finden, und manchmal auch danach, etwas zu verlieren“ – „Die Unschärfe der Welt“ von Iris Wolff erzählt die Geschichte einer Familie aus dem Banat (historische Region in Südosteuropa, die heute in Rumänien, Serbien und Ungarn liegt) über 4 Generationen hinweg. Es ist eine Geschichte von Liebe, Verlust, Trennung und Tod. Wolff hat mich tief berührt und Figuren erschaffen, die ich von Herzen liebe. Florentine, Sana – großartige, starke Frauen bevölkern diesen Roman. Eine Geschichte voller Empathie – zart, zerbrechlich und doch auch ein wenig spröde manchmal. Genau so, wie ich es mag. Eine Geschichte, die davon erzählt, wie stark die Bande von Liebenden, von Familie und von Freundschaften sein können. Auch wenn sie durch Grenzen und große Distanzen auf die Probe gestellt werden. Es fällt mir schwer in Worte zu fassen, wieso mich der Roman so berührt hat. …unbedingt erwähnenswert ist auch die Erzählstruktur des Romanes: Mit jedem Kapitel wechselt die Hauptfigur und die Zeitebene – und somit auch der Erzählton. So wird jedes Kapitel für sich schon zu einem kleinen Meisterwerk. Interessant ist auch der historische Hintergrund, der unaufgeregt in die Geschichte eingebettet wurde. Für mich ein echtes, großes Herbsthighlight – vollkommen verdient und zurecht auf auf der Longlist für den Deutschenbuchpreis. Mein Favorit der Herzen! Unbedingt lesen. Erschienen bei Klett-Cotta. ( > mehr auf Instagram @ literarischernerd )

Die Unschärfe der Welt / Iris Wolff

Viel Spaß beim Lesen und Entdecken.

Unterstützt beim Kauf bitte Euren lokalen Buchhandel. #buylocal

Euer Florian Valerius

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von Florian Valerius (@literarischernerd)

2 comments

Lust zum stöbern und entdecken?

2 comments

Ina 14. Januar 2021 - 10:21

Da waren einige sehr interessante Titel dabei, die ich noch gar nicht kannte. Vielen Dank für Aufzählung und den Einblick.

Reply
Björn Schmitt 15. Februar 2023 - 16:48

Sehr geehrter Herr Valerius,
kann ich Ihnen ein Manuskript zukommenlassen?
Ich suche einen Verlag.

Reply

Schreibe uns Deine Meinung