Quartalslese 4/2021 – Was den Nerd begeisterte

by Florian Valerius
...

Quartalslese 4/2021 - Florian Valerius - buecherkaffee.deDas vierte Quartal 2021 ist mittlerweile schon eine ganze Weile vorüber und natürlich habe ich auch in dem letzten Jahresquartal wieder vier besondere Highlights für mich entdeckt. Aufgrund einer kleinen notwendigen Blog-Verschnaufpause und aus gesundheitlichen Gründen gibt es jetzt erst einen Post dazu – aber besser spät als nie, oder? 🙂

Auf Instagram habe ich schon ausführlich darüber geschrieben und gesprochen – aber ich möchte euch diese Bücher auch hier im BücherKaffee nicht vorenthalten.

Daniel Schreiber | Allein

„Allein“ von Daniel Schreiber, erschienen im Verlag Hanser Berlin, ist wohl „das Buch der Stunde“. Nicht nur, weil es in meinem Instagram-Feed gerade dauerpräsent ist, sondern eher, weil es ein Meisterwerk ist, welches bleiben wird. Bevor ich zum eigentlichen Thema komme, möchte ich anmerken: Wenn zukünftige Generationen fragen, wie sich damals, 2020, diese Corona Pandemie angefühlt hat, dann wird man ihnen dieses Buch in die Hand geben können. So viele meiner Empfindungen, Stimmungen, Ängste und Hoffnungsschimmer der letzten zwei Jahre konnte ich hier nachspüren, überdenken und auch einordnen – allein deswegen spreche ich hier schon eine große Leseempfehlung aus. Aber aber zum Kern des Buches: Daniel Schreiber erkundet in seinem Essay, was es bedeutet, Allein zu sein. Nicht nur auf philosophische & soziologische Ideen großer Namen der Literaturgeschichte greift er dabei zurück, nein, er erzählt von eigenen Erfahrungen & Erlebnissen und lässt seine Leser*innen dabei so tief in seine Seele blicken, dass es regelrecht schmerzt bei der Lektüre. Schon lange wurde mein „Empathie-Zentrum“ nicht mehr so dermaßen getriggert. Und das meine keineswegs negativ. Ich bewundere Daniel dafür, wie er uns mitnimmt, wie er sich dabei öffnet und sein Innerstes offenbart, dabei Schattenseiten, Traumata und auch gar „unsympathische“ Seiten zeigt. Jedoch steckt nicht der Wunsch nach Nabelschau dahinter, oder gar heischen nach Mitleid – nein, vielmehr nutzt er diese intimen Einblicke, um uns Themen wie queere Scham, , Liebe, Beziehungen & Freundschaft näherzubringen und verständlich zu machen. In einer sich aktuell so krass ändernden Welt bietet dieses Juwel einen Halt, einen Anker in einer tosenden Gesellschaft in der sich immer wieder die Frage stellt: Wie wollen wir leben? Ein weiteres Mal: Absolute Leseempfehlung – Daniel ich verneige mich vor dir, deiner Intelligenz und deiner Empathie & Empfindsamkeit. Danke für dieses Buch.

Daniel Schreiber – Allein

Mona Ameziane | Auf Basidis Dach

Vorweg: Mona Ameziane ist ein ganz wunderbarer Mensch. Ich kenne sie seit meinen Instagram-Anfängen – schätze sie, verehre sie. Seit ich wusste, dass sie an einem Buch schreibt, fieberte ich mit. Oft haben wir während des Prozesses Nachrichten ausgetauscht. Und dann kam der Tag, als ich „Auf Basidis Dach“* in meinen Händen hielt. Und dann kam die Angst: Was, wenn ich es nicht mag? Gestern überwand ich diese Angst: Und natürlich war sie unbegründet. Ab Seite 1 war klar: Dieses Buch IST Mona Ameziane. Als würde man bei einem Pfefferminztee mit ihr zusammensitzen, als hätte man gesagt: „Mona, erzähl doch mal!“. Und das tut sie dann auch auf ihre ganz wundervolle Art: Wie es sich anfühlt, zwischen zwei Welten aufzuwachsen. Wie es sich anfühlt, Wurzeln im Ruhrgebiet und in Marokko zu haben. Was „Herkunft“ bedeutet und wie sie ein Leben beeinflussen kann. Wie eine wahre marokkanische „Geschichtenerzählerin“ nimmt Mona uns mit auf eine Reise und erzählt uns von ihrer wunderbaren Familie, ihrer Kindheit und dem Heranwachsen – und dem Zerrissensein zwischen zwei Kulturen. Von Fès, Agadir und Snober. Und von Basidis Dach, einem nahezu magischen Ort voller Erinnerungen und Geschichten. Zu jeder Zeit trifft dieser „trip down memory lane“den richtigen Ton: Voller Wärme ist dieses Memoir, voll Herz und Liebe. Witzig ist es! Reflektiert ist es und auch selbstkritisch. Gekonnt (und unaufgeregt) sind Themen/Gedanken wie/zu Privilegien und (Alltags-)Rassismus eingeflochten. Mit staunenden Augen fliegt man durch die Seiten, fährt mit Mona Taxi, handelt mit ihr auf einem Markt, riecht, schmeckt und fühlt – und auch bei einer Schafschlachtung sind wir dabei. Man erkundet Marokko durch Monas Augen und durch ihre Seele. Erlebt Klischees und Realitäten. Und kommt am Ende diesem Land, seinem Wesen und Mona sehr sehr nahe. Ich denke, viel schöner können meine Worte nun nicht mehr werden und ich höre nun auf. „Auf Basidis Dach“ ist im Kiwi Verlag erschienen. Absolute Leseempfehlung!

Mona Ameziane – Auf Basidis Dach

Raynor Winn | Der Salzpfad

Quasi über Nacht verlieren Raynor Winn und ihr Mann Moth alles, was sie besitzen. Ihre Farm und das komplette Vermögen ist nach einem Rechtsstreit futsch – doch nicht nur die weltlichen Güter versiegen: Bei Moth wird eine unheilbare Nervenkrankheit diagnostiziert. Alles, was sie noch besitzen, passt nun in zwei Rucksäcke, mit denen die beide sich aufmachen, den 1000 Kilometer langen South West Coath Path zu erwandern. Am Ende dieser langen Reise voller Strapazen werden beide zu anderen Menschen geworden sein. Winn hat mich mit ihrem autobiografischen Bericht „Der Salzpfad“ äußerst bewegt. Die Wanderung (und Selbstfindung) des seit über 30 Jahren verheirateten Paares wird zu einer absolut humanen und nahezu spirituellen Erfahrung. Dreieinhalb Monate dauert der Trip, auf dem sie wild in der Natur zelten und von 50 Euro Ausgleichsrente die Woche (über-)leben müssen. Am Ende werden sie nicht nur ihre Lebensfreude wiedergefunden haben, sondern auch ihre Würde. Die Naturbeschreibungen sind der Wahnsinn – und Winns Gabe, die verschiedenen Charaktere/Menschen, die ihren Weg kreuzen, zu skizzieren, trifft mitten ins Herz. Wofür ich dem Buch aber nicht genug danken kann: seiner Sensibilisierung für das Thema „Obdachlosigkeit“. Das Buch ist durchsetzt mit kleinen Exkursen und Fakten zu dieser Thematik, die das Ehepaar Winn plötzlich hautnah selbst erleben und erfahren muss. Wie schnell es passieren kann, dass man unverschuldet plötzlich ohne ein Dach über dem Kopf dasteht und sich am Rand der Gesellschaft wiederfindet. All das ist manchmal etwas arg dramatisch, jedoch immer voller Selbstironie und trockenem Witz. Und voller Herzenswärme. Absolute Leseempfehlung. “The salt path“, übersetzt von Heide Horn & Christa Prummer-Lehmair – erschienen im Goldmann Verlag.

 

Raynor Winn – Der Salzfad

Emi Yagi | Frau Shibatas geniale Idee

Als Nobelpreisträgerin Olga Torkarczuk in Trier gelesen hat und die Fragerunde begann, stand ein alter weißer Mann auf und legte los: „Er hätte ihre Bücher nicht gelesen, ABER“ … und er redete und redete, bis der Moderator ihn höflich unterbrach und fragte, was denn nun die Frage sei. „Er hätte keine“ war die lapidare Antwort- und redete weiter. Ich glaube, danach hat er Applaus erwartet. Warum ich diese Anekdote erzähle? So lange es solche Typen gibt, braucht diese Welt Bücher wie „Frau Shibatas geniale Idee“ von mi Yagi. Frau Shinata ist 34 und arbeitet in einer Firma in Tokyo. Da dort hauptsächlich Männer arbeiten, ist ihre Rolle in dieser stark patriarchalen Gesellschaft sehr schnell festgelegt: Kaffee kochen, aufräumen, spülen und andere „Aschenputtel-Aufgaben“. Irgendwann reicht es Frau Shibata: Sie behauptet, schwanger zu sein und plötzlich ändert sich dadurch ihr komplettes Leben: Ihre Kollegen behandeln sie zuvorkommend und rücksichtsvoll und sie erkennt den Wert von Freizeit. Doch, wie wir alle wissen, dauert eine Schwangerschaft „lediglich“ 9 Monate – und dann? Emi Yagi wurde 1988 geboren und gehört zu den Shootingstars der japanischen Literaturszene – die Kurzgeschichte, auf welcher der Roman basiert, ist preisgekrönt. Ich verstehe warum: Voller Witz, absolut augenzwinkernd packt sie heiße, gesellschaftliche Eisen an und verpackt diese in eine hinreißend kurzweilige Handlung. Frau Shibata rebelliert sehr still, aber erfolgreich. Es ist ein Genuss, mitzuerleben, wie sie nach und nach realisiert, dass das Leben aus mehr als nur Arbeit bestehen kann. Wer “Die Ladenhüterin“ von Sayaka Murata geliebt hat, wer bei “Mit Staunen und Zittern“ von Amelie Nothomb mitgelitten hat und wer ergriffen war von „Kim Jiyoung, geboren 1982“ von Cho Nam-Joo wird dieses Buch, voll von genialen Bildern & Metaphern, auch lieben und feiern. Bitterböse Satire auf die grausame japanische Arbeitswelt, feministischer Befreiungsschlag und eine Geschichte über das Erzählen von Lügen. Ganz großer Lesespass und große Leseempfehlung. Übersetzt aus dem Japanischen von Luise Steggewentz, erschienen im Atlantik Verlag.

Emi Yagi – Frau Shibatas geniale Idee

Das waren meine persönlichen Highlights im letzten Quartal des Jahres 2021. War für Euch etwas dabei, habe ich Euch einen Titel schmackhaft machen können? 

0 comment

Lust zum stöbern und entdecken?

Schreibe uns Deine Meinung