Aufgelesen #4 | Gänsehaut, wie sie im Buche steht [2/3]

by Wolfgang Brandner
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AUFGELESEN #4

Liebe Leserin, lieber Leser – hast Du schon Angst, ist es mir gelungen, Dich in der letzten Ausgabe der Kolumne “Aufgelesen” etwas zu verunsichern?

Noch nicht?

Nun, so laß’ mich Dir in den folgenden Zeilen einige weitere Anlässe zum Fürchten präsentieren: Wer nach aktuellen wissenschaftlichen Entwicklungen sucht, die punktgenau außer Kontrolle geraten, ist beim amerikanischen Autorenduo Douglas Preston und Licoln Child bestens aufgehoben. 

Bereits in Mount Dragon (1996) wurde in einem unterirdischen Labor mit einem hoch infektiösen Virus experimentiert, das, wie kann es anders sein, trotz aller Sicherheitsvorkehrungen, seinen Weg aus dem Labor findet. 
Dessen Auswirkungen sind übrigens nichts im Vergleich zu jenen in Stephen Kings frühem Meisterwerk Das letzte Gefecht (1978), in dem ein mutiertes Grippevirus nahezu hundert Prozent der Weltbevölkerung dahinrafft. Was der Menschheit nützen, das Leben angenehmer gestalten sollte, verkehrt sich in ein perverses Gegenteil.

Dieses Thema – die Schöpfung übertrumpft den Schöpfer – findet sich bereits in Goethes Zauberlehrling, als er verzweifelt ruft: 


“Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.”

Daß die künstliche Intelligenz in vielen auch zivilen Belangen bereits der menschlichen überlegen ist, beweisen Schachprogramme, die in Sekundenbruchteilen eine Vielzahl an möglichen Ausgängen antizipieren können. Beim Schach beruhen jedoch die Entscheidungen der Spieler darauf, daß zu jedem Zeitpunkt alle Informationen über das Spielgeschehen bekannt sind. Beim Poker hingegen ist zumindest ein Teil der Karten verdeckt, und der Einschätzung des Gegners, dem Bluffen, kurz, dem menschlichen Faktor kommt eine wesentliche Rolle zu. Jedoch ist verfügt das Computerprogramm Cepheus, eine Entwicklung der University of Alberta, über eine ständig wachsende Datenbank an Spielabläufen, sodaß es mittlerweile jeden Menschen um seinen Einsatz bringen kann.

Beängstigend, oder?

Nicht nur von sich verselbständigenden Computern stehen wir im Begriff ausgestochen zu werden, auch als Erfüllungsgehilfen von Politik und Wirtschaft leisten sie treue Dienste. Der Hunger nach Daten von Regierungen und Konzernen ist bekannt. Das gewonnene Material dient nicht mehr allein dazu, geheimdienstlich unsere Vergangenheit zu durchleuchten, viel größeres Potential liegt in der Vorhersage unseres zukünftigen Verhaltens.

Bereits zwei Romane, nämlich Blackout und Zero hat der österreichische Autor Marc Elsberg in diesem Themenbereich veröffentlicht. Zuverlässig spätestens ein Jahr nach dem Erscheinen wird auch für weniger speziell interessierte Nachrichtenkonsumenten offensichtlich, wie akribisch seine Recherchen sind. Der intelligente Stromzähler (der nicht nur beim Energiesparen, sondern auch beim Verfolgen der Gewohnheiten hilft) oder Datenbrillen und soziale Netzwerke, die mittels ausgeklügeltem Belohnungssystem in der Lage sind, ganze politische Landschaften umzupflügen, erobern immer mehr unseren Alltag, werden uns vertrauter. Die reißende Bestie des Überwachungsstaates, die noch bei George Orwells 1984 ihre Klauen in die Mitglieder der

Zivilbevölkerung schlägt, hat ihren Schrecken verloren, ist zu einer scheinbar wärmenden und schützenden Schmusedecke geworden. Bereitwillig fügen wir uns dem Unausweichlichen, akzeptieren es, mit persönlichen Daten als harter Währung zu bezahlen.

Doch wenn wir nicht mehr Herr über unsere Zukunft sind, haben wir da noch unsere Gegenwart in der Hand, können wir uns selbst noch vertrauen? Sind wir diejenigen, die wir zu sein glauben, gehört das verschlafene Gesicht mit dem schiefen, irgendwie sympathischen Lächeln, das wir morgens im Spiegel erblicken, tatsächlich uns selbst? Was, wenn die letzte konkrete Erinnerung unauffindbar ist und das Spiegelbild absolut nicht dem entspricht, was wir erwarten?
Der Protagonistin in S. J. Watsons Ich. darf. nicht. schlafen. ergeht es beispielsweise so. Somit wird auch diese letzte Bastion der Sicherheit von kreativen Erzählern erstürmt. 

Sebastian Fitzeks Erstling, Therapie etwa ist ein selten erreichtes Meisterwerk, das den Protagonisten (metaphorisch) in eine Kiste sperrt und so lange durchschüttelt, bis weder dieser noch der Leser mehr Wahn und Wirklichkeit voneinander unterscheiden können. Ein Meister derselben Kunst und ebenfalls Angehöriger einer neuen deutschen Generation virtuoser Psychothriller-Autoren ist Wulf Dorn, dessen Trigger schließlich den Leser schweißgebadet an seiner selbst zweifeln läßt und Filme wie Face/Off und Total Recall zu harmlosem Kinderprogramm degradiert. Wer sich nach ähnlichen Leseerlebnissen sehnt, ist übrigens auch bei Marc Raabe und Arno Strobel gut aufgehoben …

(… Fortsetzung folgt …)


 

Freudiges Weiterlesen!

© Wolfgang Brandner




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1 comment

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1 comment

Nana 18. September 2015 - 19:55

Oh jaaa… Beängstigend!
Und spannend! 😉

Ich habe schon einige der Bücher gelesen – allesamt grandios (!) (Fitzek, Orwell, Dorn, Watson) und kann nur sagen: da gab's wirklich Anlass zum Fürchten 😀

LG ♥ und ein schönes Wochenende,
Nana

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