Aufgelesen #7 | Wo wir hinfahren, brauchen wir keine Straßen.

by Wolfgang Brandner
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AUFGELESEN #7

Liebe Leserin, lieber Leser,

letzten Mittwoch, am 21. Oktober 2015 war es nun endlich so weit. Marty McFly und Doc Emmet Brown trafen mit ihrer Zeitmaschine geradewegs in Hill Valley ein. Für all jene, die nun fragend die Stirn runzeln: Die Rede ist von der Filmtrilogie “Zurück in die Zukunft“, in der Dr. Brown, der Prototyp des zerstreuten Wissenschafters, eine Zeitmaschine erfindet und in einen Sportwagen der Marke DeLoran DMC-12 einbaut, um damit das Jahr 1955 zu bereisen. Im zweiten Teil der Geschichte treten er und sein jugendlicher Gefährte, besagter Marty McFly den Weg in die andere Richtung an. Mit dem inzwischen fliegenden Auto erreichen sie jene Zeit, die für uns mittlerweile zur Gegenwart geworden ist.
Eigentlich müßten wir ja die Vergangenheitsform benutzen. Jener Tag, dem unzählige Fans der Filme entgegengefiebert haben, liegt nicht mehr länger in der Zukunft. Der Konjunktiv ist dem Indikativ gewichen, das Wahrscheinliche muß sich dem harten Vergleich mit dem Wahren stellen.

Aus heutiger Sicht wirken die drei Filme zuweilen unfreiwillig komisch, belehrend altbacken und voller logischer Löcher. Unsere Augen sind bereits an die perfekte Täuschung durch computergenierte Spezialeffekte in Kinofilmen gewöhnt, unsere Ansprüche an diese Form der Unterhaltung entsprechend hoch. Vermutlich würden wir uns daher verächtlich abwenden, sähen wir diese Zeitreisegeschichten der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts zum ersten Mal. Für jene Generation, zu der sich auch der Verfasser dieser Zeilen zugehörig fühlt, gehören sie jedoch zum Kanon der Kindheits- und Jugenderinnerungen. Sie stammen aus einem Jahrzehnt, in dem die Unterhaltungsindustrie noch nicht im heutigen Ausmaß verästelt war, in dem die Verbreitung von entsprechenden Inhalten mangels digitaler Medien noch in einem weitaus geringeren Tempo erfolgte und der Konsens über einen gemeinsamen Lieblingsfilm, einen populären Song länger anhielt.

“Zurück in die Zukunft” ist in der Gegenwart des Jahres 1985 angesiedelt, von der aus das Jahr 1955, die als gute alte Zeit verklärte Vergangenheit und 2015, die unendlich weit entfernte, Science-fiction-artige Zukunft bereist werden. Letztere diente bis vor kurzem als Projektionsfläche für Phantasien und Hoffnungen. Wie werden wir wohl in der Zukunft leben? Wie werden wir arbeiten, wie unsere Freizeit verbringen? Wird es noch Kriege und Hungersnöte geben? Werden wir uns tatsächlich in fliegenden Autos fortbewegen, werden wir uns in der unsichtbaren Geiselhaft eines allgegenwärtigen Überwachungsstaates befinden, werden wir noch Bücher lesen …?
Das alles natürlich unter der Voraussetzung, daß das fragile Konstrukt unserer Zivilisation noch nicht in sich zusammengebrochen ist. Vor kurzem wurden wir aus diesem Traum wachgerüttelt, seit kurzem können überprüfen, welche der Utopien aus 1989 zur Entstehung des Filmes sich bewahrheitet haben und in welchen Belangen sich der Regisseur geirrt hat.Die auffälligste Innovation, der nicht mehr erdgebundene Verkehr durch fliegende Autos, wird wohl noch länger auf sich warten lassen, obwohl
die Entwicklung in der Fahrzeugindustrie unübersehbar voranschreitet. Für selbstfahrende Wagen gilt es nur mehr juristische Grundsatzfragen zu klären, und auch wenn Schadstoffemissionen und Treibstoffverbrauch selbst durch ausgeklügelte Software nicht ganz negiert werden können, so beginnt die Mauer der Ablehnung gegenüber alternativen Energieträgern langsam zu bröckeln.
Etwas weniger auffällig, dafür in Jugendtagen umso begehrenswerter war das sogenannte “Hoverboard” des fitkiven 2015. Dabei handelt es sich um ein wenige Zentimeter über dem Boden schwebendes Skateboard, auf dem Marty McFly sich mit seinen halbstarken Verfolgern eine aufregende Jagd lieferte. Auch dieses coole (jedes andere Attribut wäre unpassend) Fortbewegungsmittel hat es leider noch nicht zur Serienreife gebracht, obwohl ein Automobilhersteller in einem Video sein neues Modell mit einem Prototypen des Hoverboard bewirbt. An die Echtheit dieser Bilder wird übrigens gezweifelt …
Entwarnung gibt es für Skeptiker der universellen Digitalisierung, die Tageszeitung erscheint im Film ebenso wie bei uns immer noch auf Papier, und auch Bücher werden noch gedruckt und gebunden. Der Medienkonsum hat sich allerdings dahingehend verändert, daß nicht mehr nur ein
Fernsehprogramm linear konsumiert wird, sondern aus unzähligen Sendern mehrere ausgewählt und verfolgt werden können. Damit ist das tatsächliche 2015, in dem Online-Videodiensten jedes Programm jederzeit bereitstellen und Arbeitsplätze mit mehreren Bildschirmen nicht ungewöhnlich sind, erstraunich präzise getroffen. Haustüren werden im Film nicht mehr mit einem Schlüssel, sondern per Fingerabdruck einer authorisierten Person geöffnet – auch diese Technik ist bei uns zwar noch nicht weit verbreitet aber gesellschaftlich akzeptiert und im Einsatz.
“Du mußt lernen, vierdimensional zu denken!”
Ganz offensichtlich hat der Regisseur die gesellschaftliche Revolution der digitalen Medien nicht vorhergesehen. So wird zwar im Hause McFly des Jahres 2015 eifrig per Videotelephonie kommuniziert, jedoch ist der Anschluß analog zu den Gepflogenheiten der 1980er Jahre an einen
Haushalt und nicht an ein personalisiertes Gerät gebunden. Als Marty plötzlich entlassen wird, erfährt die Familie durch ausgedruckte Fax-Nachrichten davon, die zugleich an mehrere in der Wohnung verteilte Endgeräte zugestellt werden …
Bei all dem Enthusiasmus für die moderne Technik, in einem Bereich konnte der Mensch die Natur noch nicht bezähmen: Von der sekundengenauen Wettervorhersage, wie sie im Film zum Einsatz kommt, sind wir noch weit entfernt.
Wehmütig blickt die “Zurück in die Zukunft”-Generation nun auf ein Szenario, das teilweise eingetreten ist. Viel mehr als der Umstand, daß wir uns noch nicht mit Hoverboards vergnügen können, schmerzt der Umstand, daß wir über dieses Idealbild einer Zukunft nicht mehr in schwärmerischer Möglichkeitsform sprechen können. Sie wurde zur Gegenwart und wird in Kürze wohl nur mehr milde belächelt werden. Oft wollen wir gegen das Voranschreiten, gegen die Veränderung als einzige Konstante aufbegehren, oft einen einzelnen Moment festhalten und scheitern an dem unaufhaltsamen Strom, von dem er uns wieder entrissen wird.
Immerhin, was wir aus den hier zitierten Filmen können lernen können, ist, Prophezeihungen als Spiel mit Möglichkeiten, nicht als unverrückbare Fakten zu betrachten. Um es mit Doc Browns Worten auszudrücken: “Du musst lernen, vierdimensional zu denken!”
Welche Erinnerungen verbindest Du mit “Zurück in die Zukunft”, was waren prägende Filme Deiner Kindheit?

Freudiges Weiterlesen!

© Wolfgang Brandner

2 comments

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2 comments

Nelly G. 29. Oktober 2015 - 8:24

Huhu, ich hab vor kurzem von Matthias Keidtel “Karaoke für Herta” gelesen und fand es eigentlich ganz gut. Da es meine erste Begegnung mit dem Autor war, werd ich auf jeden Fall nochmal ein Buch von ihm lesen und das hier hört sich doch eigentlich ganz gut an.

Danke für die differenizierte Rezension 😀

Alles Liebe, Nelly

Reply
Marcus 1. November 2015 - 8:07

Hallo Nelly,
'Karaoke für Herta' habe ich nicht gelesen, aber wenn Dir der Humor von Matthias Keidtel zusagt, liegst Du mit 'Frau Endlich geht' bestimmt nicht falsch.
Liebe Grüße,
Marcus

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