Dikranian. Abovyan. Petrosian. Mazavian. Mein Nachname war plötzlich in phonetischer Gesellschaft. Bisher hatte ich ihn getragen wie ein unpassendes Kleidungsstück, wie einen verbeulten Hut, den ich auch zum Essen nicht abnahm.
Die Buchrestauratorin Helene Mazavian reist von Deutschland aus in die armenische Hauptstadt Jerewan. In den Werkstätten des Matenadaran, dem Zentralarchiv für armenische Handschriften, erlernt sie im Rahmen eines wissenschaftlichen Austauschprogramms eine spezielle Buchbindetechnik.
Helene selbst hat armenische Wurzeln, befasste sich aber bis zu jener Reise nie bewusst mit ihrer Familiengeschichte. Doch ein altes Familienfoto und das Drängen ihrer Mutter veranlasst sie dazu, auf die andere Seite des Ararat zu reisen, um mögliche Verwandtschaft ausfindig zu machen.
Auch die Arbeit an der alten Familienbibel, die ihr anvertraut wurde, trägt zu der Entscheidung bei. „Hrant will nicht aufwachen. Mach, dass er aufwacht.“ – eine rätselhafte Notiz am Rande der Bibel weckt ihre Aufmerksamkeit und liebevoll bessert sie Seite für Seite aus. Sie erfährt bruchstückhaft von einem jungen armenischen Geschwisterpaar, deren Familie dem großen Völkermord zum Opfer fiel. Vollkommen auf sich selbst gestellt auf ihrer Flucht vor den Türken, tragen die vierzehnjährige Anahid und ihr acht Jahre jüngerer Bruder Hrant ebendieses Heilevangeliar immer bei sich. Vom Vater selbst wurde sie ihnen anvertraut. Es ist alles, was ihnen von ihrer Familie blieb.
Eine Reise in die Geschichte Armeniens
Durch ihre Arbeit und die neu gewonnenen Freunde lernt Helene viel über Armeniens Geschichte und dem Genozid von 1915, den das osmanische Reich an den Armeniern verübte. Das Land und die Kultur wird ihr nach und nach vertrauter, sie geht vollkommen in ihrer Arbeit auf und sie stürzt sich Hals über Kopf in eine Affäre, die sie immer mehr vereinnahmt und ihren Lebensgefährten in Deutschland in den Hintergrund treten lässt.
Es gibt Abertausende Schichten, und ich kratze an der Oberfläche herum, schabe Schmutz, löse Verklebungen
Ich folgte Katerina Poladjan mit Begeisterung nach Armenien. Zu wenig weiß ich über dieses im Kaukasus gelegenen Land, dass im Norden an Georgien, im Osten an Aserbaidschan, im Südosten an den Iran und im Westen an die Türkei grenzt. Aber ihre schon etwas poetisch anmutende Spurensuche nahm mich vollkommen mit, ich bekam ein Bild vor Augen und das Bedürfnis, mehr zu erfahren. Die Erzählerin Helene erscheint in ihre Charakteristik spröde und sprunghaft, mal wirkt sie lakonisch, mal ist sie voller überbordender Leidenschaft.
Reglos lag ich in seiner Umarmung, spürte seinen Atem, seine Knochen, als gehörten sie zu mir. Ungeordnet und wirr erzählten wir aus unserem Leben. Fetzen flogen von Kopf zu Bauch, Hand zu Schulter, am Bein entlang zum offenen Fenster hinaus über Dächer, über Hügel, über Wolken, über Steine.
Aber diese Leidenschaft ist auch bei ihrer Arbeit spürbar. Mit Akribie und Hingabe widmet sie sich dem Lernprozess, ist völlig vereinnahmt und hochkonzentriert, wenn sie die Fäden durch die Ösen zieht, Knoten für Knoten langsam festzieht und Kanten und Bruchstellen Kleber ausbessert, mit dem Skalpell punktgenau arbeitet und mit Laugen vorsichtig säubert. Ihre Ehrfurcht vor diesen Jahrhunderte alten Werken ist deutlich spürbar. Leerstellen pflegt sie, sie entfernt sie nicht und ich frage mich, sind es die Leerstellen ihres eigenen Lebens, ihrer Vergangenheit?
Knoten um Knoten verbindet Katerina Poladjan Geschichte mit dem Hier und Jetzt
Gleich mit mehreren Fäden durchzieht die Autorin diesen Roman, verbindet und heftet die Geschichte Armeniens mit dem Hier und Jetzt zusammen. Mit großer Euphorie folge ich dieser Technik, bin vereinnahmt und fliege regelrecht durch die Seiten. Doch dann kommt der Moment, da merke ich, wie mir die Puste ausgeht, der Kopf schwirrt. Sind es zu viele Fäden, wurde hier zu viel oder falsch verknotet? Will Katerina Poladjan zu viel Thema zwischen zwei Buchdeckel pressen? Ich verliere im letzten Drittel beinahe den Faden und schlage – zugegebenermaßen etwas ratlos – das Buch zu.
Aber ich merke auch, es lässt mit keine Ruhe. Poladjan hat es geschafft, dass die Geschichte weiter in mir arbeitet und zuletzt komme ich zu dem persönlichen Schluss, dass all das – ihre doch äussert planlosen Recherchen, ihre Affäre, ihre akribische Arbeit, ihre Konzentration auf die Vergangenheit und das Schicksal von Anahid und Hrant, ihre Freunde im Hier und Jetzt und ihre Beziehung in Deutschland – eben alles dazu diente, um von jenen eigenen Leerstellen des Lebens abzulenken, sie sorgsam zu pflegen, zu erhalten und zu behüten…
Ich hatte Angst, das Buch zu verletzen. […] Ich pflegte Leerstellen, starrte eine Seite an, von der fast ein Drittel fehlte, die farbigen Risskanten ließen vermuten, dass hier Miniaturen ausgerissen worden waren. Ich rührte den Weizenstärkekleister , bis er wieder kalt und unbrauchbar war.
Mein Fazit: Ihren Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019 hat „Hier sind Löwen“ zurecht verdient. Ein atmosphärisch dichter Roman in einer mitreissenden Sprache, der herausfordert und auch nach dem Zuschlagen der letzten Seite noch lange nachwirkt.
© 2019, Alexandra Stiller
Roman
S. Fischer Verlag | ISBN: 978-3-10-397381-5
2019
288 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
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